Es geschah am 21. November...


Vernehmungsprotokoll Nr. 1573
Name: Harrison
Vorname: David
Wohnhaft in: Bristol, Vereinigtes Königreich
Beruf: Soldat, Royal Army Medical Corps, Rang: Corporal
Erfragt wurde: Der Verlauf des Untergangs des Lazarettschiffs seiner Königlichen Majestät „Britannic“


„Ich erinnere mich noch gut an jenen Novembermorgen, nahe der Küste von Kea, nur wenige Meilen von unserem Anlaufziel entfernt. Wir befanden uns zu jenem Zeitpunkt bereits seit 4 Tagen auf hoher See, darauf vorbereitet, in Mudros vor Anker zu gehen und gut zweieinhalbtausend verwundete Kameraden aus der Dardanellenschlacht zur Überführung in die Heimat aufzunehmen. Die Jungs hatte es ganz schön übel erwischt, wie Ich später selbst vor Ort feststellen durfte. Sie möchten sich besser nicht vorstellen, was Da so Alles an Schwerverletzten in den provisorisch aufgestellten Feldbetten lag und wie sehr die ortsansässige Notfallversorgung, trotz ausgiebiger Unterstützung durch das RAMC sowie des Roten Kreuzes, unter der Last der Versorgungsbedürftigen regelmäßig ächzte. Was mich betrifft, so war es nichts besonders Neues für mich, eine derartige Situation mit anzusehen. Seit Dezember 1915 diente Ich schon auf der „HMHS Britannic“ und war nach Allem, was Ich im Laufe der Zeit bei unseren Stopps in Mudros, Neapel und Augusta erblickt hatte, ziemlich abgestumpft für abgetrennte Gliedmaße und unter Schüttelneurose leidende Menschen, die zu jener Zeit nur knapp dem endgültigen Verderben in der wohl schrecklichsten von Menschen geschaffenen Hölle (bis dahin) entgangen waren. Ich verrichtete meine damaligen Pflichten, wie es Jeder von uns tat: Wachen Verstandes und Geistes entsprechend. Meine Aufgaben bestanden in erster Linie in der Unterstützung der Versorgung der verletzten Kameraden während der Überfahrt. Das heißt: Regelmäßiges Waschen, Nahrung und Medikamente verabreichen, bei der Stippvisite der Bordärzte assistieren (sofern notwendig), die an Bord befindlichen medizinischen Vorräte regelmäßig überprüfen und je nach Situation und Erforderlichkeit noch Einiges mehr.

(…)

Ich fand mich, wie jeden Morgen um Acht, im Speisesaal der „Britannic“, zusammen mit Mrs. Jessop und einigen weiteren Besatzungsmitgliedern und Kameraden an einem gemeinsamen Tisch zum Frühstück ein. Mrs. Jessop und Ich hatten uns dabei eine ganz eigene kleine Tradition angeeignet, wenn man so will. Wir tauschten uns hauptsächlich über unseren Lesefortschritt aus, den wir mit unseren Büchern im Laufe der Zeit gemacht hatten. Zur Erklärung: Wir Beide kauften uns zu Beginn einer jeden Fahrt in der Bücherei von Southampton jeweils ein Buch und lasen Dieses dann jeden Abend nach Dienstschluss in unserer Kabine so weit, wie wir nur kamen. Am nächsten Morgen dann sprachen wir über das Gelesene. Ein kleines, aber dennoch erfrischendes Vergnügen, Das uns eines der Teuersten unserer damals noch jungen Freundschaft geworden war. Wie wir Da so saßen, unser Frühstück einnahmen und miteinander sprachen, so kam es – Ich glaube, es war so um Zehn nach Acht – plötzlich zu einem sehr merkwürdigen Ereignis, bei Welchem das Schiff unerwarteter Weise durch Irgendetwas erschüttert und zeitweise sogar etwas ins Wanken gebracht wurde. Alles an Bord dröhnte und vibrierte für eine knappe Minute lang so sehr, dass man beinahe den Eindruck bekam, es hätte ein Erdbeben oder Etwas in der Art stattgefunden. Mrs. Jessop und Ich blickten uns zunächst verwundert an, doch bemerkte Ich schon in diesem Moment, dass sie eine Art Vorahnung zu haben schien, als sie sich kurz darauf von ihrem Platz erhob, das Wort ergriff und allerlei Anweisungen durch den gesamten Saal schmetterte. Wir sollten unsere Schwimmwesten aus den Kabinen holen und uns geordnet zum Bootsdeck begeben, um weitere Befehle der Bordoffiziere und des Captains abzuwarten. Als Ich sie fragte, warum Dies denn auf einmal nötig sei, blickte sie mir mit einer Entschlossenheit ins Gesicht, Die Ich bis zum heutigen Tage nicht vergessen werde. Ihre Augen verrieten mir, dass sie zu jenem Zeitpunkt bereits mehr wusste, als jeder Andere an Bord.

(…)

Sie müssen wissen: Mrs. Jessop war nicht einfach nur irgendeine junge Dame, die aus irgendeiner Provinz als Stewardess zum Kriegsdienst auf einem Lazarettschiff eingezogen worden war. Diese junge, durchaus resolute und doch sehr fürsorglich wie gewissenhaft agierende Frau war Eine der Überlebenden des Untergangs der „RMS Titanic“; jenes tragischen Schwesterschiffes, das einst vor gut 4 Jahren auf seiner Jungfernfahrt nach der Kollision mit einem Eisberg den unbarmherzigen Wassern des Atlantischen Ozeans zum Opfer fiel und mehr als 1500 Tote sowie eine umfangreiche, den Ruf der White Star Line (bei Welcher Mrs. Jessop nach wie vor angestellt war), äußerst in Mitleidenschaft ziehende Untersuchung nach sich zog. Sie war demnach erfahren, wenn es um die Vorbereitung der Rettung von Menschen vor einer möglicherweise drohenden Katastrophe auf See ging. Sie wusste um die Fehler der Titanic-Besatzung; und Was es bedeuten könne, wenn nicht rechtzeitig alles nur Erdenkliche getan werde, um jeden Einzelnen in Sicherheit bringen zu können. Ich kannte Ihre Geschichte sehr sehr gut; wahrscheinlich besser als die meisten Anderen der an Bord befindlichen Besatzung.

(…)

Weshalb Ich ihr Handeln nicht länger hinterfragte und tat, wie mir geheißen ward. Ich lief schnellen Schrittes in mein Quartier, griff Eine der dort verstauten Westen, legte zudem meine Feldjacke an, verstaute die für mich wichtigsten Dokumente in dessen Innentasche und begab mich eiligst wieder nach oben zum Bootsdeck. Auf dem Weg dorthin lief mir einer der jungen Scouts über den Weg. Ich wollte ihn noch aufhalten und fragen, wie’s weiter unten im Schiff aussah und Was dort vor sich ginge. Doch der Junge war deutlich flinker als ein Eichhörnchen im Sommer, weshalb er auch genauso schnell verschwand, wie er gekommen war; mir blieb also Nichts weiter, als das Bootsdeck zu erreichen und anschließend einen der Bordoffiziere zur Situation zu befragen, sofern Dies denn möglich sein würde; als mir zum ersten Mal auffiel, dass die „Britannic“ offenbar eine deutliche Schlagseite nach Steuerbord zu bekommen schien. Das muss so in etwa um Zehn vor Halb Neun gewesen sein, wenn mich meine Erinnerung nicht trübt.

(…)

Als Ich schließlich über die achtere, große Treppe das Bootsdeck an Backbord erreichte, fand’ Ich mich prompt in dicht gedrängten Menschenmengen wieder. Die Leute – sie waren allesamt in Rettungswesten und warmen Kleidern eingehüllt, die ein Überleben in dieser durchaus trügerisch angenehm anmutenden Kühle ermöglichen würden – hatten sich zum Besteigen der Rettungsboote versammelt und Viele von ihnen schienen bezüglich der Situation schon wesentlich besser unterrichtet gewesen zu sein, als Ich es anfangs vermutete. Ich erinnere mich noch an die Stimme einer Person aus der Menge, die einer Anderen zu erzählen schien, Was tief unten im Schiffsbauch gerade vor sich ging. Sie hätte ihre Kabine an Steuerbord auf dem E-Deck, weit vorne im Bug und sei durch eine schwere Explosion, die das Schiff erschüttert und kurzzeitig sogar aus dem Wasser gehoben hätte, aus ihrem Bett gestürzt worden, nur um wenige Minuten später schließlich feststellen zu müssen, dass über den Flur her Meerwasser einzudringen schien, Das seinen Ursprung offenbar in einem nicht unerheblichen Leck hatte. Das Schiff wäre dem Sinken inbegriffen und man würde daher das Abfieren der Boote vorbereiten. Ich muss gestehen, dass es mir bei diesen Worten in jenem Moment eisig den Rücken herunter lief und die Befürchtung einer Katastrophe, dem Titanic-Disaster ähnelnd, nur allzu deutlich meine Gedanken zu bestimmen begann. So zögerte Ich nicht länger und bahnte mir einen Weg zu den achteren, massiven, stählernen Davits, wo man bereits damit begann, die ersten Boote mit Leuten zu besetzen und abzufieren; als Ich plötzlich allerlei Geschrei vernahm. Was genau vorgefallen ist, konnte Ich zunächst nicht feststellen. Erst durch impertinentes Nachfragen meinerseits wurde mir mitgeteilt, dass offenbar Eines der bereits zu Wasser gelassenen Rettungsboote den noch laufenden Antriebsschrauben der „Britannic“, welche aufgrund der immer stärkeren Neigung des Schiffes nach Steuerbord Voraus schon deutlich aus dem Wasser zu ragen schienen, so gefährlich nahe gekommen war, dass es von ihnen erfasst und zerfetzt worden ist. Angeblich haben sich Einige durch einen beherzten Sprung ins kalte Nass retten wollen, konnten dem Sog der laufenden Schrauben aber nicht entgehen. Ein Vorgang, der mir vor Schreck für einen Moment den Atem raubte; doch konnte Ich mich recht schnell wieder fassen und suchte nun das Deck nach Mrs. Jessop ab.

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Schließlich fand Ich sie etwas weiter Backbord Voraus an einem der kleinen Davits inmitten einer nicht unerheblichen Menge von White-Star-Besatzungsmitgliedern und Kameraden des RAMC, die nur darauf warteten, das vorbereitete Rettungsboot endlich besteigen zu dürfen; während sie ihnen zeigte, wie man am Besten die Rettungsweste anzulegen und möglichst sicher zu verschnüren habe. Ich versuchte, Ihr das zuvor in Erfahrung Gebrachte noch irgendwie mitzuteilen; vergeblich, angesichts der angespannten Situation, die ihre ganze Aufmerksamkeit zu beanspruchen schien. Dass Ich anschließend, wider besseren Wissens, zu ihr ins Boot stieg anstatt sie davon zu überzeugen, ein anderes Boot an Steuerbord aufzusuchen oder zumindest abzuwarten, bis das Schiff die Maschinen gestoppt haben würde, erscheint mir heute auf äußerst ironische Art und Weise plausibel. Wie sehr das Band der Freundschaft zwei Menschen doch miteinander vereint. 

(…)

Man ließ uns recht schnell zu Wasser, sodass wir theoretisch über genügend Zeit verfügt hätten, um uns vom Schiff zu entfernen. Was man dabei allerdings nicht bedacht hatte, war der Umstand, dass die Maschinen der „Britannic“ nach wie vor auf Voller Fahrt weiter liefen, was bei der andauernden Vorwärtsbewegung des Schiffes eine Art Sogströmung erzeugte, Welcher sich unser Rettungsboot nicht entziehen konnte, so sehr wir Alle uns auch darum bemühten. Unaufhaltsam trieben wir an der Bordwand des Schiffes entlang immer weiter nach achtern; unter einem anderen, zu Dreiviertel abgefierten Rettungsboot hindurch, auf die bedrohlich schnell laufenden Antriebsschrauben des Schiffes zu; dem scheinbar unausweichlichen Schicksal erbarmungslos ausgeliefert. Ich rief Mrs. Jessop zu, sie solle nicht lange nachdenken, über Bord springen und anschließend schwimmen, wie sie noch nie zuvor in ihrem Leben geschwommen ist, während Ich selbst kurz darauf mit einem beherzten Sprung ins kühle Nass des Mittelmeeres flüchtete; hoffend, dass sie meiner Anweisung Folge leisten würde. Als Ich kurz nach meinem Sprung jedoch wieder auftauchte und mich umsah, erblickte Ich sie nach wie vor im Boot sitzend, scheinbar unschlüssig darüber, Was sie tun solle. Aus vollster Lunge schrie Ich einmal mehr, dass sie um Himmels Willen doch springen solle. Und schließlich, kurz bevor das Schlimmste eintraf, wagte sie den rettenden Sprung, tauchte kurz darauf jedoch nicht mehr auf. Abermals schrie Ich nach ihr; mit Allem, was mein Atem mir nur geben konnte, bekam jedoch keine Antwort. Und von einem Moment auf den Anderen formten sich in meinem Kopf schreckliche Szenarien, die mich befürchten ließen, dass Mrs. Jessop aller Wahrscheinlichkeit nach Opfer des unerbittlichen Wütens der mittlerweile zur Hälfte aus dem Wasser ragenden Antriebsschrauben der „Britannic“ geworden war; Welche anschließend gerade noch rechtzeitig stoppten, bevor noch ein weiteres Rettungsboot, Das ihnen ebenfalls gefährlich nahe gekommen war, anheim fallen konnte. Einmal mehr rief Ich nach Mrs. Jessop; in der Hoffnung, ihre Stimme aus nicht allzu großer Ferne noch vernehmen zu können. Vergebens. Eine andere, mir ebenfalls vertraute Stimme drang dafür umso deutlicher an mein Ohr und nur wenige Sekunden später ergriff Ich die helfende Hand meines Vorgesetzten, Lt. Col. Anderson, Der mich in das Rettungsboot zu seinen übrigen Kameraden hineinzog und anschließend den Befehl gab, weiter vom Schiff weg zu rudern, um Abstand zwischen uns und dem sinkenden Stahlkoloss zu schaffen, Welcher sich immer tiefer in die See zu bohren schien, zwischenzeitlich erstaunlicherweise nochmals Fahrt aufnahm und auf die nahe gelegene Insel Kea zuzuhalten schien, um wohl noch in letzter Sekunde auf Grund laufen zu können, wie Ich damals naiverweise vermutete. Ein Manöver, Das sich offenbar als fruchtlos herausstellte, als die Männer und Ich feststellen mussten, dass das Schiff unter erneuter Fahrt nur noch mehr Schlagseite zu bekommen schien, während es zugleich immer weiter mit dem Bug voran in den Fluten des Meeres verschwand. Was das weitere Abfieren der Rettungsboote und damit die gesamte Evakuierungspraxis an sich unnötig erschwert hätte.

(…)

Ich erinnere mich nicht mehr an jedes Detail des restlichen Untergangs. Was Ich aber sagen kann, ist, dass die „Britannic“, nachdem ihre Maschinen endgültig zum Stillstand gebracht und die weitere Evakuierung des Schiffes vorangetrieben wurde, recht schnell zu sinken schien. Das Schiff neigte sich dabei langsam immer weiter nach Steuerbord, während der Bug bald bis zur Brücke hinauf gänzlich vom Meer verschlungen wurde und der Vorderste der Schornsteine der „Britannic“ krachend ins Meer stürzte. Wir konnten das ächzende Heulen von Metall unter großer Belastung und das dumpfe Donnern ihrer Kessel, die in Kontakt mit dem Meerwasser kamen und mit schier explosionsartiger Gewalt darauf zu reagieren schienen, vernehmen. Was mir am Meisten von ihren letzten Minuten im Gedächtnis blieb, war der Moment, als wir mit ansahen, wie sich ihr Rumpf schließlich endgültig auf die Seite legte, während sich ihr mächtiges Heck quälend langsam aus dem Wasser erhob und beinahe senkrecht in die Höhe ragte, als wir kurz darauf einen lauten wie dumpfen Knall vernahmen, Welcher aus der Tiefe zu uns heraufzusteigen schien. Lt. Col. Anderson schlussfolgerte in diesem Moment, dass der Bug des Schiffes wohl den Meeresboden erreicht haben musste und es nun nicht mehr lange dauern würde, bis der gesamte Rumpf im Wasser verschwindet. Wahrhaftig, er sollte damit Recht behalten.

(…)

Es war mir selbst erst im Nachhinein möglich, in Erfahrung zu bringen, dass der Untergang der „Britannic“ insgesamt etwas weniger als eine Stunde andauerte, dank der entschlossenen Evakuierungsmaßnahmen aber „nur“ 30 bedauernswerte Todesfälle mit sich brachte; die Meisten davon befanden sich in jenen zwei Booten, die durch die schiere Wucht der Antriebsschrauben des Schiffes in tausende Einzelteile zerfetzt worden waren. Mrs. Jessop, glücklicherweise, zählte nicht zu ihnen, wie Ich Stunden später erfreut feststellen durfte. Was unsere letztlich folgende Rettung angeht, so fanden sich die Meisten auf den zur Hilfe herbei geeilten Zerstörern „Scourge“ und „Heroic“ wieder, Welche uns schließlich sicher in Mudros absetzten und ortsansässige Protokollanten der Royal Army umgehend damit begannen, allerlei Zeugenberichte vom Ablauf des Untergangs aufzunehmen. Der Rest dürfte Ihnen ab Da ja geläufig sein, wie ich hoffe.“


Anmerkungen des Autors

Die zuvor gelesene Erzählung stellt eine fiktive Zeugenaussage eines ebenso fiktiven Charakters an Bord des tatsächlich existenten Lazarettschiffes „Britannic“ dar, Welches am 21. November 1916 im Mittelmeer auf eine deutsche Seemine lief und anschließend sank. Insgesamt starben 30 Personen bei dieser Tragödie.
Ich habe mich bei dieser Geschichte um größtmögliche Nähe zu den tatsächlichen historisch überlieferten Ereignissen und beteiligten Personen bemüht. Sollten dennoch gewisse Unstimmigkeiten oder Interferenzen mit dem historisch Überlieferten auffindbar sein, so bitte Ich diesbezüglich um Nachsicht, da Ich Diese dann wohl schlichtweg übersehen haben muss.
Die Erzählung stellt auch einen Versuch meinerseits dar, ein Gefühl dafür zu bekommen, wie es damals gewesen sein muss, als sich das Ganze ereignete.