Kater Kendall geht auf Reisen



Widmung


Liebe Lisa, dieses Hörbuch ist mein ganz persönliches Geburtstagsgeschenk an Dich. Danke, dass Du all die Jahre lang schon Teil meines Lebens bist und dass Ich Teil des Deinen sein darf. Die Welt wäre ohne Dich definitiv eine Traurigere, weshalb Ich Dir nun Alles nur erdenklich Liebe für deine Zukunft & Gesundheit wünsche sowie natürlich auch nun viel Spaß beim Genießen dieser extra für Dich verfassten Geschichte.


Kater Kendall geht auf Reisen

Vor nicht allzu langer Zeit lebte in einem kleinen verschlafenen Städtchen am östlichsten Rand des Landes ein junger Kater namens Kendall. Mit seinem gold schimmernden Fell sowie seinen meeresblau glänzenden Augen, seiner zierlich geformten Stuppsnase und der im Allgemeinen anmutig schlanken Erscheinung war er ein wahrhaftiger Hingucker unter den Felidaen und dementsprechend weit über die Grenzen seiner Heimat hinaus bekannt.  Und wenngleich es Kater Kendall sehr genoss, von Allen mit freudigen Staunen begrüßt und anschließend mit allerlei Spielzeug und gar köstlichsten Futter umsorgt zu werden, so plagte ihn doch eine stille Sehnsucht nach Dem, das dort draußen in weiter Ferne verborgen lag. Tag um Tag, Nacht um Nacht träumte oder sinnte er davon, seine eingetretenen Lebenspfade endlich aufzubrechen, den wohligen Komfort seines Heims hinter sich zu lassen und hinaus in die weite Welt zu ziehen, um all die wunderbaren Dinge zu erblicken, von Denen er bislang nur dem Hörensagen nach Kenntnis erlangt hatte. Natürlich wusste Kater Kendall, dass er hier dann aller Wahrscheinlichkeit nach schmerzlich vermisst werden würde und wenn er ehrlich zu sich selbst war, dann spürte er auch, wie sehr es ihm ebenso sehr ergehen könnte, sobald seine Pfoten die ersten Schritte durch die ferne Wildnis wagten. Doch immer dann erfasste ihn wieder diese Sehnsucht nach der Ferne und sein Entschluss, schon bald loszuziehen und zu reisen, ward nur noch stärker in ihm.

So kam es denn nicht unerwartet, als er eines Nachts sich schließlich dazu überwand, mit einem Stoffbündel im Maul, in Welchem er sein wichtigstes Hab und Gut verstaut hatte, sich endlich durch die Katzentür zur Veranda seines Heimatlichen Einfamilienhauses, in dem sein Frauchen seit Jeher lebte, ins Grüne aufzumachen. Kaum hatte er jedoch die ersten Schritte durch die Katzentür über die Veranda in den angrenzenden Garten gesetzt, stoppte ihn eine nur allzu bekannte Stimme. Franz, der Uhu, saß wie sonst auch immer auf seinem angestammten Ast in der Krone des Apfelbaumes, der die Mitte des Gartens markierte. "Aber mein lieber Kendall, was führt dich denn mit einem Mal des Nachts hierher, und noch dazu in diesem Aufzug?" Kater Kendall sprach voller Stolz: "Ich tu's, Franz! Ich habe meine sieben Sachen gepackt und ziehe auf ins Grüne, um die Welt zu sehen!" Worauf der Uhu seine tiefen Augen weit öffnete und seinen Kopf zur Seite neigte. "Hast du dir Das auch gut überlegt, Junge? Ich weis, Was dich dort draußen in all der Wildnis erwarten wird und Ich sehe wohl, dass Du dir Dessen nicht im Klaren zu sein scheinst." Kater Kendall bemerkte, was der alte Kronenhocker im Schilde führte und sprach noch entschlossener: "Ich habe sehr sehr lange darüber nachgedacht und Ich war dabei auch nicht dumm. Ich weis, dass die Wildnis dort draußen unerbittlich sein wird. Dass mir Niemand etwas einfach so schenken wird, wenn Ich mich nicht darum bemühe. Und dass vor Allem Mutter Natur mich herausfordern dürfte. Doch all Das ist mir gleich, wenn Ich doch auch gesehen habe, was Einem dafür Alles offenbar werden kann. All die Orte, Dinge und Momente. Ich weis, Was Ich tue, Franz. Ich bin bestens vorbereitet." Doch diesmal schien dem Uhu nicht so leicht beizukommen zu sein, als Dieser seine Augen zu zwei bedrohlich anmutenden Schlitzen zusammen kniff und Kater Kendall zuflüsterte: "Du hast bei Weitem nicht Alles gesehen, geschweige denn gehört. Merk' Dir mein Wort: Die Welt ist kein Spielplatz und wenn Du nicht aufpasst, wird sie dir schon bald zum Verderben werden. Nicht alle Lebewesen sind so wie Du, Kendall. Vor Allem nicht all die anderen Felidaen, die dort durchs Land streunen. Ich mahne Dir ein letztes Mal: Schlag dir die Flausen aus dem Kopf und kehre um, solange Dir deine Lebendigkeit durch Mutter Natur noch gewährt wird." Aber Kater Kendall versah' die Warnung des alten Uhus nur mit einem missbilligenden Grummeln und zog mitsamt all seinem Reisegepäck durch ein Loch im nahegelegenen Holzzaun hinaus in den dahinter liegenden Wald. Uhu Franz blickte ihm noch eine ganze Weile nach; wissend, dass Kendalls Aufbruch einen Stein ins Rollen bringen würde, den der junge Kater wohl nicht bedacht hatte.

Kater Kendall hatte sich ein riesiges Ziel für seine Reise gesetzt. Bis ins traumhafte Paris sollten ihn seine flauschigen Pfoten tragen, komme was auch immer nur wolle. Auch seine Reiseroute hatte er genaustens augeklügelt. Über Wochen hatte er im Beisein von Frauchen regelmäßig beim Frühstck die Verkehrsnachrichten in der Lokalzeitung studiert - ja, Kater Kendall konnte tatsächlich lesen und Niemand wusste so genau, wo und wie er Das gelernt hatte - und so herausgefunden, dass er - wenn er es denn ganz geschickt anstellte - nur einen Zug in der großen Stadt besteigen und anschließend gut versteckt bis nach Paris durchreisen musste. Ein leichtes Spiel, dachte Kendall so bei sich. Auch, wenn er zugeben musste, dass er noch keine Lösung für das Nahrungsproblem gefunden hatte. Zwar konnte er durchaus einen ganzen Tag lang ohne Essen auskommen, wenn auch unter großer Anstrengung. Aber ohne Trinken...so, ganz ohne...Das war für ihn  ein Ding der Unmöglichkeit und wenn ihm nicht bald Etwas einfiel, dann würde er die ganze Fahrt ohne Wasser auskommen müssen. VERDURSTEN würde er müssen!  Das zumindest glaubte Kater Kendall ganz fest. Hatte er doch noch nie von Katzen gehört, die länger als einen ganzen Tag lang ohne Wasser ausgekommen waren und konnte sich kaum vorstellen, dass Dies überhaupt möglich wäre. Doch seine erste Hürde war im Moment vor Allem die Frage, welchen Weg er genau einschlagen sollte. Gegenüber Franz, dem Uhu, hatte er sich zwar bestens vorbereitet und fest entschlossen präsentiert, doch in Wahrheit plagten ihn bereits jetzt schon erste Ängste des Versagens.

Allein, mit einem Bündel voll von Leckerlies, einer Spielmaus und seinem kleinen Lieblingsdeckchen, stand er da nun inmitten hoher Bäume, die im Schein des am Himmel prangenden Vollmondes wie gespenstische Riesen auf ihn herabzublickn schienen. Seine Ohren vernahmen alle möglichen Geräusche. Vom Rufen einer Eule über das ferne Fiepsen einer Maus bis hin zum beängstigend nahe gelegenen Knacken von Ästen im Unterholz zwischen den Baumstämmen. Die Wildnis wurde Kendall in ihrem Gewand der Nacht offenbart und sie gefiel ihm alles Andere als gut. Das Knacken im Unterholz war mit einem Mal direkt neben ihm und Kater Kendall erschrak, dass ihm selbst seine langen Barthärchen zu Berge standen, er dabei mit deutlichen Fauchen einen Satz in die Höhe machte, ohne zu bemerken, dass er nun das Bündel mit seinen Habseligkeiten fallen ließ. Als er wieder am Boden landete, krümmte er seinen Rücken zu einem Buckel und fuhr die Krallen aus, bereit, zu bekämpfen, was immer ihm da zu nahe gekommen war. "Du bist mir aber ein kratzbürstiger Tiger.", grunzte es aus dem Gestrüpp zu seiner Rechten, aus Welchem kurz darauf ein kleiner Igel hervor tappste. "Warst wohl noch nie draußen, was?", witzelte er Kater Kendall an und gab dabei ein grunzendes Kichern von sich. Kendall selbst hatte sich wieder beruhigt und war eher verwundert über die Erscheinung des Igels. Er kannte dessen Art aus dem Fernsehen, hatte sie dort aber nie grunzen hören. Mit großen Augen blickte er den stachligen Vierbeiner an, Dem dies natürlich nicht unbemerkt blieb. "Was? Noch nie 'n Igel gesehen, Samtpfötchen?" - "HEY!!!", rief Kater Kendall darauf, "ICH BIN KEIN SAMTPFÖTCHEN!!!" Seine Antwort war natürlich Blödsinn. Er brauchte nur an sich herunterzusehen, wenn er sich Dessen versichern wollte und natürlich wusste er Das auch. Er mochte es eben nur nicht, wenn man sich über seine Pfoten lustig machte. Dem Igel selbst war Das allerdings herzlich egal, als er auf Kater Kendalls Reaktion nur spöttisch erwiderte: "Nein, natürlich nicht! Wie dumm von mir, einfach zu behaupten, Eure Hoheit wär' ein Samtpfötchen, wenn doch Jeder das Gegenteil sehen könne...ACH NEE!!!" Worauf er höhnisch grunzend zu lachen begann und sich zu einem kleinen Ball kugelte. Kater Kendall fand Das so gar nicht witzig und wartete deshalb den richtigen Moment ab, um dem Igel einen Hieb mit der Pfote zu verpassen, sobald ihm Dieser seine besonders verwundbare Seite zurollte. Dies geschah auch kurz darauf und Kendall schwang sogleich seine Vorderpfote, traf dabei den Igel direkt an der Nase, der merklich aufschreckte und sich umgehend davon machte. "NIEMAND MACHT SICH ÜBER MEINE PFOTEN LUSTIG!!! MERK' DIR DAS, DU STACHELSCHWEIN!!!", rief Kater Kendall dem unliebsamen Besucher noch hinterher, bevor das Geräuschkonzert des Waldes erneut das Einzige war, das ihn begleitete. "Tja, vom Stehenbleiben komme Ich auch nicht weiter.", dachte er sich und beschloss daher, einfach geradezu durch die Bäume zu wandern, bis er wieder auf offeneres Land treffen würde. Und so griff er sich sein Bündel, das er zuvor fallen gelassen hatte, auf ein Neues und machte sich wieder auf den Weg, seinem Reiseziel entgegen.

Unaufhaltsam bahnte sich Kater Kendall seinen Weg durch das dichte Gestrüpp des Waldes, das scheinbar nicht enden wollte. Ebenso wenig wie die Geräusche, deren Klangteppich sich über seine angespannten Ohren legte und es ihm dadurch schwer machte, abzuwägen, ob sich etwas Gefährliches in seiner Nähe befand oder nicht. Kendalls Schritt war dementsprechend zügig und er achtete ganz besonders darauf, nicht auch noch selbst unnötigen Lärm zu machen. Wie lange er zu diesem Zeitpunkt schon durch dieses Gewirr aus Ästen, Stämmen und Blättern irrte, wusste er nicht. Erst ein Blick gen Himmel verriet ihm zumindest, dass die Morgensonne sich bereits ankündigte, da der Himmel durch die schwarzen Baumkronen bereits merklich blau zu schimmern begann. Kater Kendall war sehr froh über diesen Anblick, denn er wusste, dass er bei Tag einfach der bessere Läufer war, auch wenn ihm seine Augen und Ohren es ermöglichten, sowohl am Tag,  als auch des Nachts bestens sehen und hören zu können. Es war ihm einfach nur zu anstrengend, bei Nacht zu reisen und überhaupt war doch das Reisen am Tag, wenn all die Menschen wach und unterwegs waren, viel lohnenswerter. Er hatte mal vom Uhu Franz gehört, dass ein paar Menschen wohl besonders großen Gefallen an Katzen finden und ihnen deshalb immer wieder Essen an bestimmten Stellen in der Welt servieren würden. Wo genau Das geschah, konnte oder wollte der Uhu aber nicht verraten. Wenn es denn überhaupt stimmte, dachte er sich, während er sich kurzerhand durch einen dichten Busch zwängte, um anschließend auf eine große Wiese zu treten. Statt eher staubigen, teils von Blättern und Ästen übersäten Waldboden fand Kendall hier nun einen eher weichen, vom flachen Gras zusätzlich gepolsterten Grund vor, der seine Pfoten etwas kitzelte, sich aber sonst sehr gut anfühlte. Über ihm offenbarte sich ein von unzähligen glitzernden Punkten übersäter Himmel, der seine nächtliche Schwärze langsam gegen das warme Blau eines neuen Morgens einzutauschen begann. In der Ferne schien die Wiese dann aber plötzlich in eine Art kleines Tal abzufallen, in Welchem er schon jetzt die vereinzelt beleuchteten Umrisse großer Häuser auszumachen glaubte, die so hoch zu sein schienen, dass Einige von ihnen sich weit hervor taten, während der Rest sich ihm erst dann aufzeigte, als er nach und nach weiter über die Wiese wanderte. Er hatte endlich die Stadt erreicht. Aber...wo war denn jetzt in diesem Gewirr aus Straßen und Häusern bitte der Bahnhof?

Auf der Suche nach dem Bahnhof irrte Kater Kendall durch die lauten und geschäftigen Straßen der Stadt, die von der Vormittagssonne in angenehm warmes Licht getaucht wurden. Dabei hilt er sich stets nahe bei den Wänden der Häuser, um nicht plötzlich umgerannt oder gar von diesen großen Metalldingern mit ihren Rädern, die die Menschen wohl "Autos" nannten, überrollt zu werden. Er hatte sich oft gefragt, wie die Welt der Menschen wohl aussehen möge und als er einmal neugierig einen Blick durch die offene Vordertür seines Zuhauses gewagt hatte, konnte er zumindest einen ersten Eindruck jener Umgebung bekommen, in Welche sein Frauchen jeden Tag verschwand, um erst zum Abend hin wieder von dort zurückzukehren. Doch nie im Leben hätte er auch nur einen Gedanken der Möglichkeit zugetan, die Welt der Menschen könne derart schnellebig und erdrückend sein. Er dachte immer, dass Das nur ein Witz aus dem Fernsehen sei. Aber dass es wirklich so war… Er wunderte sich nicht, dass er den Bahnhof in diesem Gewusel nicht finden konnte und fragte sich, wie die Menschen hier überhaupt zurecht kommen konnten, bei Allem, das um sie herum geschah. Als plötzlich ein reißender Schmerz von seinem Schwanz ausgehend durch seinen ganzen Körper fuhr und ihn aufschreien ließ. Sein Reisebündel abrupt fallen lassend, blickte er sich um und sah, wie ein kugelrunder Riese eine große Kiste rasch vom Boden aufhob. "Ohje! Tut mir leid, Kleiner!", rief Dieser. Doch Kendall war bereits auf und davon, sprang völlig panisch zwischen den vielen Menschenfüßen hin und her, brachte dabei einen Menschen auf einem seltsamen Zweirad fast zum Umstürzen und jagte zudem auch noch mitten durch eine Reihe von Kisten, die mit Etwas gefüllt waren, das er von Zuhause als "Obst" kannte und von Denen er bei seiner Flucht ein paar offenbar irgendwie umgeworfen bekam. Was seinen plötzlichen Schrecken nicht gerade minderte. Einige Zeit rannte er so umher, bis er sich schließlich in einer ruhigen Gasse erschöpft zwischen zwei großen Metallzylindern niederließ, auf denen das Wort "Müll" zu sehen war. So sahen also die sogenannten "Mülltonnen" hier aus. Kater Kendall hächelte kurzatmig vor sich hin, während er sich nach und nach zu beruhigen und seine Sinne erneut zu schärfen begann. Verdammt, wo bin Ich hier nur gelandet, fragte er sich und sah sich aufmerksam um.

Die Gasse, in Welche er geflüchtet war, wirkte ziemlich heruntergekommen und grässlich. Die Fassaden zweier großer Wohnkomplexe säumten die jeweils linke und rechte Seite über die gesamte Länge und abgesehen von einigen Mülltonnen sowie einer ganzen Reihe seltsamer Kisten gab es hier nicht sonderlich viel Nennenswertes zu entdecken. Wachen Verstandes suchte er die Gegend nach möglichen Gefahren ab und atmete erleichtert auf, als er Keine entdecken konnte. "Wenn Das so weitergeht, werde Ich es nie nach Paris schaffen.", merkte er an und versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Die Luft in dieser Gasse war angenehm kühl und umschmeichelte Kendalls Näschen sanft, sodass er plötzlich mehrmals niesen musste, was kurz darauf mit seltsamen Geräuschen beantwortet wurde. Woher diese Geräusche kamen, konnte er nicht genau sagen. Doch so viel stand fest: Was auch immer diese Geräusche verursachte, legte keinen sonderlichen Wert darauf, sich ihm alsbald zu offenbaren. "Lange her, dass sich Frischfleisch hierher verirrt hat!", hallte es mit einem Mal von der einen Seite der Gasse zu Kendall herüber. Worauf eine zweite Stimme von der anderen Seite der Gasse hinzufügte: "Seht ihn Euch nur an! So jung und frisch! So unbefleckt!" Eine der Mülltonnen, zwischen Denen er sich verkrochen hatte, wurde mit einem Mal heftig ins Wanken gebracht, als eine ihm gefährlich nahe gelegene, dritte Stimme sich anschickte, den anfänglichen Spott mit den Worten "So unverschämt!" nunmehr zum Ende zu bringen. Kater Kendall schlug sein kleines Felinenherz bis zum Hals. Er versuchte vergebens, sich in die schattigen Ecken nahe der Wand einzuzwängen, in der Hoffnung, so den neugierigen Blicken möglicher Widersacher zu entgehen. Als er schließlich in die giftgelben Augen eines hageren Artgenossen blickte, dessen schmierige Lieder von zerzausten Fetzen umrahmt wurden, die offenbar sein Fell darstellen sollten, wobei der Rest seines Körpers den Eindruck eines ausgehungerten Löwens erweckte, der seine kräftigen Pranken gegen gefährliche Klauen eingetauscht zu haben schien. "Wer bist Du, dass Du es wagst, dich einfach in unserer Straße breit zu machen, Frischling???", fauchte der Hagere ihn an. Kendall wollte antworten, brachte aber kein einziges Wort heraus. Worauf ihn der Hagere einen Hieb mit seiner Vorderpfote verpasste und abermals fragte: "HÖRST DU SCHWER ODER WAS??? ICH WILL WISSEN, WAS DU HIER ZU SUCHEN HAST???" - „Hey! Ruhig Blut, Raffi! Du weist doch, dass Frischlinge immer an den Boss gehen!", ertönte es aus dem Abseits. Worauf der Hagere namens Raffi nur spöttisch erwiderte: "Der Boss wird seinen Spaß schon noch bekommen! Jetzt aber sind erstmal wir dran." Noch bevor Raffi zum nächsten Hieb ausholen konnte, kam ihm Kater Kendall zuvor und nutzte den anschließenden Überraschungsmoment, um der Sackgasse in einem Sprung entfliehen zu können. "Dieser Springbock hat mir fast das Auge ausgekratzt!!! Schnappt ihn Euch!!!", rief Raffi noch hinter ihm her, worauf ein regelrechtes Konzert aus Fauchen und Mauzen losbrach, bei dem Kendall nicht zweimal überlegen musste und losrannte, als wäre der Teufel hinter seiner Seele her. In nur wenigen Sekunden war er wieder zur geschäftigen Hauptstraße zurückgekehrt und suchte Schutz zwischen den Beinen der hin und her strömenden Menschenmassen. Als ihn nur kurze Zeit später plötzlich eine riesige Pranke am Schlafittchen erfasste und nicht mehr loszulassen schien. Er blickte sich um und erstarrte vor Schreck, als er in die glasigen Augen eines ausgewachsenen Hundes blickte. "Na na, wohin denn des Weges, Samtpfötchen?" - "Ich bin kein Samtpfötchen!", entgegnete Kendall dem muskulösen Köter, der darauf nur spöttisch durch die Backe schnaubte. "Natürlich nicht. Und du siehst auch nicht wie ein ausgesperrter Stubentiger aus gut betuchten Hause aus. Das ist natürlich Alles Tarnung für Was auch immer." - "Ganz genau! Und Die wird gleich auffliegen, wenn Du mich nicht sofort laufen lässt!!!", fauchte er den Hund an. Doch Dieser neigte nur seinen recht kurzen Kopf verwundert zur Seite, als Raffis Stimme aus der Ferne ertönte: "DA DRÜBEN!!! DER DICKE HAT IHN SICH GEKRALLT!!!" - "Herrje, was hat denn ein Samtpfötchen wie Du mit diesen Streunern zu schaffen?", fragte der Hund. Kendall antwortete hektisch: "NICHTS! DIE HABEN MICH OHNE GRUND AUF DEM KIEKER!!!" - "Die Feliminaten haben Niemanden ohne Grund auf dem Kieker, Kleiner!", sagte der Hund und löste seinen Griff von Kater Kendall. "Spring auf, Samtpfote! Ich bring' Dich hier weg!" Das ließ er sich nicht zweimal sagen und krallte sich prompt auf dem Rücken seines unerwarteten Verbündeten fest, Welcher sogleich auch losstürmte. Aus der Ferne konnten die Beiden noch Raffis lautstarkes Fluchen vernehmen, als sie an der nächsten Kreuzung nach rechts abbogen und dann einige Straßenzüge später wieder zum Stehen kamen.

"Ich glaube, Die sind wir los, Kleiner!", bemerkte der Hund, worauf Kendall sich wieder von seinem Rücken löste. "Ich habe Alles erwartet, aber dass mich ein großer Hund vor diesen grässlichen Streunern retten würde...", stellte er etwas beschämt fest. "Wie heißt Du überhaupt? Und was für ein Hund bist Du eigentlich?" Ich habe Solche wie Dich noch nie gesehen!" - Ein bellendes Lachen entfuhr Diesem darauf und er antwortete: "Arni nennt mich mein Herrchen. Und wenn Ich von ihm richtig gehört habe, nennt man meine Art wohl "Mastiff" oder so. Und Du bist, ähm...?" - "Kendall, der Kater! Laut Frauchen bin Ich ein Toyger!" Arni formte seine Schnauze zu Etwas, das man als Lächeln bezeichnen konnte. "Interessant. Und was treibt Eure Toygerheit hierher?" - "Nun, Ich bin eigentlich nur auf der Durchreise. Ich will nämlich nach Paris und dabei die Welt entdecken!" Wieder lachte Arni und sprach: "Und da kommst Du ausgerechnet auf die glorreiche Idee, dich unbedingt mit den Feliminaten, dem gefährlichsten aller Katzenklane hier in der Stadt, anzulegen???" - "Nein!!! Ich hab doch vorhin gesagt, dass sie mich grundlos angegriffen haben!!!" - "Achja? Du hast Dich also nicht zufällig in der schmalen Gasse nahe dem Obsthändler verkrochen, nachdem Dir Einer der vielen Menschen zufälligerweise auf den Schwanz getreten ist?" Kendall war überrascht von dieser Frage. "Hast Du etwa Alles gesehen?" - "Ich bin ein Wachhund! Natürlich habe Ich Alles gesehen!", sagte Arni breit grinsend. "Aber zurück zu Dir, Samtpfötchen!" - "ICH!!! BIN!!! KEIN!!! SAMTPFÖTCHEN!!!", schrie er Arni plötzlich an. "So so. Und was ist dann Das da?", fragte er Kendall, seine Pranke auf die flauschigen Vorderpfoten des Katers gerichtet, der daraufhin murrend zu Boden blickte. "Hör zu", sprach Arni weiter, "So wie Ich das sehe, bist Du von anfang an nicht gut in deine große Reise gestartet und wenn ich ehrlich bin, dann dürfte sich dein Frauchen schon große Sorgen um Dich machen. Aber wenn Du das Alles wirklich durchziehen willst, dann kann Ich Dir gerne helfen. Der schnellste Weg nach Paris geht mit dem Zug und zufälligerweise weis Ich, wo der Bahnhof ist." - "Und Was muss Ich tun, dass du mir den Weg zeigst?", fragte Kater Kendall den Wachhund Arni. Der aber schüttelte nur seine Schnauze und sagte: "Spring einfach auf! Der nächste Zug fährt bald und Den solltest Du unbedingt noch kriegen! Sonst musst Du noch einen Tag länger warten, denn Züge nach Paris fahren hier nicht besonders oft." Mit dieser Antwort hatte er nicht gerechnet, doch würde er sich wohl kaum dazu hinreißen lassen, diese unerwartete Hilfe abzulehnen. Wer immer ihm Arni zur richtigen Zeit geschickt hatte, er hatte Kendalls vollsten Dank inne. Der Kater sprang lächelnd auf Arnis Rücken, der mit einem "Festhalten!" seinen Sprint zum Bahnhof ankündigte und kurz darauf auch schon los hechtete.

Die Sonne war bereits im Begriff, sich langsam wieder dem Horizont zuzuneigen, als Arni und Kendall endlich auf dem Bahnsteig für den Zug nach Paris eintrafen und von den verwunderten Blicken der anwesenden Gäste begrüßt wurden. Der Kater hüpfte von Arnis Rücken herab und Beide blickten sich zum Abschied noch einmal in die Augen. "Du wirst noch einen ordentlichen Weg vor Dir haben, kleine Samtpfote. Auch, wenn Du dich jetzt über die nächsten Stunden hinweg bis nach Paris im Zug verstecken kannst. Die Pariser Bahnhöfe sind tückisch und die Stadt selbst kann Einem wie Dir schnell zum Verhängnis werden. Pass also bitte gut auf Dich auf, ja?", sagte Arni und schien dabei doch tatsächlich etwas bedrückt dreinzublicken. Doch Kater Kendall gab sich entschlossen und versprach ihm, ab sofort viel vorsichtiger zu sein und keine unüberlegten Sachen mehr zu machen. Worauf der Wachhund erwiderte: "Das hoffe Ich." und den Kater mit seiner großen Zunge einmal über das gesamte Katzengesicht abschlabberte. "Jetzt aber los, Kendall!", sagte Arni zuletzt und stuppste ihn in Richtung der nahegelegenen, offenen Tür.

Kater Kendall sah' dem zum Abschied mitrennenden Arni noch eine ganze Weile nach, bis Dieser am Ende des Bahnsteiges zurückblieb, während der sich mittlerweile in Bewegung gesetzte Zug nun auf den Weg nach Paris machte. Und wenngleich er zwar froh war, trotz gewisser wie unerwarteter Umstände seinem Wunschziel doch schon so schnell so viel näher gekommen zu sein, so musste er aber auch bemerken, dass er sich - jetzt, wo er im Zug saß und sich auf einer abgelegenen Sitzbank im hintersten Zugwagen zum Schlafen eingerollt hatte - mit einem Mal dann doch sehr nach seinem alten bekannten Zuhause sehnte. Er dachte an sein Frauchen und daran, wie traurig sie jetzt grade wohl sein musste darüber, dass er einfach weggelaufen war und sie nicht einmal wusste, warum. Bei diesem Gedanken fühlte sich Kendall plötzlich sehr sehr schlecht. War sein Entschluss zur großen Reise nach Paris am Ende nun doch ein einziger, großer Fehler gewesen? Und wenn ja, hatte er denn jetzt noch eine andere Wahl? Je mehr er darüber vor sich hin grübelte, desto schwerer wurden ihm seine Augen und von mehrfachem Gähnen begleitet, glitt er schließlich hinüber in die Welt der Träume, die sich ihm als sein großes Reiseziel zu präsentieren schienen. Immerhin hier, in seinen Träumen, hatte er es endlich geschafft. Und schon bald würden seine samtig weichen Pfoten auch den echten Pariser Grund zu spüren bekommen.


Aus einer Nachrichtensendung

"Kurt Loader Jr. hier mit einem kleinen News Flash, Leute! In einem mitteleuropäischen Schnellreisezug hat sich kürzlich ein ganz besonderer Reisegast eingefunden. Der knapp vierjährige Kater Kendall hatte es sich dort auf einem der billigen Plätze offenbar gemütlich gemacht, konnte glücklicherweise aber dank seines Identifikationshalsbandes schnell wieder mit seiner Besitzerin vereint werden, nachdem er von einem völlig überraschten Schaffner zunächst der Belgischen Polizei übergeben wurde, die dann die restliche Rückführung des Tieres veranlasste. Wie und warum der Kater sich in diesem Zug eingefunden hat, ist allerdings ein ziemliches Rätsel und auch auf Anfrage unserer Redaktion konnte Kendalls Besitzerin hierzu keinerlei Angaben machen, außer dass sie selbst verwundert und völlig aufgelöst gewesen sein über das plötzliche Verschwinden ihres so geliebten kleinen Freundes. tja, Leute, so wie Ich das sehe, scheint bei diesem kleinen Samtpfötchen auch das nur allzu bekannte Fernweh eingesetzt zu haben. Denn warum sonst, wenn nicht deswegen, sollte sich ein so junger feliner Vierbeiner ausgerechnet in einen Schnellreisezug nach Paris setzen? Ich bin Kurt Loader Jr. und Das war Euer News Flash!"