AUSGERÄUCHERT - Eine Ordo Lycarnis Erzählung


Sie blickte in die Schwärze zu ihren Füßen, während das nächtliche Licht der Sterne ihr Haupt in einem kühlen Schimmer zu erleuchten schien. Erst kürzlich hatte man diesen Zugang unter dem Anwesen Murnau freigelegt und anhand seiner aktuellen Beschaffenheit festgestellt, dass er vermutlich schon seit Hunderten von Jahren nicht mehr genutzt worden war. Die Finsternis mit den scheinbar starren Pupillen zersprengend, erfasste sie binnen weniger Momente den Verlauf jener alten Treppenflucht, von Der sie sich erhoffte, dass sie ihr endlich offenbaren würde, wonach sie jetzt schon seit über 657 Monden unaufhörlich suchte. Alany war seit ihren frühen Kindestagen bekannt für ihre Persistenz, wenn es um das Erreichen gewisser Ziele ging und mit ihren Aufstieg in die Reihen der Lunamazonen, Welche seit Jeher einen wichtigen Teil des bewaffneten Arms des Lykarnischen Ordens verkörperten, wurde diese Charaktereigenschaft nur noch weiter verstärkt. „Und der Hinweis ist vertrauenswürdig, Schwester?“, sprach’ sie gewohnt stoisch zu ihren zwei Begleiterinnen, die sie bisweilen wie Obsidianstelen flankierten. „Zweifellos, Oberin. Wir haben den Ursprung des Hinweises durch die Observationsgilde zurückverfolgen lassen. Er kann sich nur hier irgendwo aufhalten.“ Ein flüchtiges Lächeln stahl sich für einen kurzen Moment über das stromlinienförmige Antlitz der Lunamazone, während sie die Antwort mit einem Nicken quittierte. Sie waren scheinbar wirklich am Ziel ihrer Suche angekommen. Alany observierte ihre Umgebung sorgfältig und mit dem akribischen Auge eines raffgierigen Zahlmeisters schien sie jedes noch so unscheinbare Sandkorn in unmittelbarer Umgebung in Augenschein zu nehmen. Sie wusste genau, Was sie tat und würde daher Nichts überstürzen. Ihr anmutiger Körper erschien wie verwurzelt mit dem Grund, auf Dem sie stand. Dass ihre Begleiterinnen sich von ihrer offenkundigen Attraktivität nur allzu gerne ablenken ließen, gar jeden einzelnen Zentimeter ihrer definierten Linien nahezu aufsaugten, störte sie nicht sonderlich. Ohnehin würde sie mit hoher Wahrscheinlichkeit auf sich selbst gestellt sein, sollte die Situation aus durchaus denkbaren Gründen in irgendeiner Weise kritisch werden. Wusste sie doch um die recht limitierten Qualitäten ihrer Klingenschwestern im Bezug auf deren Kampf- und Verteidigungsfähigkeiten, die selbst innerhalb der Lunamazonen ein ganz eigenes Sorgenkind darstellten. Alany war sich nicht mal sonderlich klar darüber, warum sie in ihrer Position als Oberin der Lunamazonen die Klingenschwestern Esther und Valeria überhaupt für diesen Auftrag angefordert hatte. Sicher, die Beiden besaßen ein erstklassiges Gespür für diversen Zeitvertreib; die Exzessiven Freuden fleischlicher Gelüste inbegriffen. Doch stellten diese „Kenntnisse“ wohl kaum eine sonderlich signifikante Unterstützung für diese Situation dar. Galten die sogenannten Wiederzähler - wie eben Jener, nach Dem Alany schon so lange suchte – doch als sehr eigenwillig und kaum durch Zerstreuungen derart trivialer Natur zu beeindrucken. Generell stellten die Wiederzähler seit ihrem mysteriösen Auftauchen vor fast 750 Jahren an der Nordgrenze Lykors stets die Eigenartigste aller Minderheitsbevölkerungen des Reiches dar. Über ihre Herkunft war nur wenig bekannt, wobei die populärste Spekulation dahingehend auf eine lange zurückliegende „Sphärenkonjunktion“ anspielte. Ein Begriff, der ursprünglich durch die Obersten Ordensschwestern geprägt wurde und ein besonderes Kosmisches Ereignis beschreibt, bei Welchem angeblich viele verschiedene Welten sich für eine recht kurze Zeit innerhalb des Metaphysischen Raumes so nahe kommen, dass sie eine Vielzahl von „Interkosmischen Brücken“ kreieren, über Welche es möglich sein soll, als Lebensform von der einen Welt in die Andere überzuwechseln. Es heißt, die Wiederzähler seien auf diese Weise in Lykor gelandet und hätten hier als Außenstehende zunächst einen Notdürftigen Duldungsstatus erlangt, der später zu einer Anerkennung als Teil der Lykarnischen Gesellschaft abgeändert wurde. Zumindest der Name ihrer angeblichen Heimat – den Chroniken der Wiederzähler zufolge stammte ihr Volk aus Askiliath, einem Reich verortet auf dem Kontinent Tormentosia (wo auch immer Dieser zu finden sein mochte) – schien ein nicht ganz unsignifikantes Indiz für die Belegbarkeit dieser Behauptung zu liefern. Soweit Alany sich entsann, sollen aber wohl nicht Alle mit der Integration der Wiederzähler damals einverstanden gewesen sein, da es kurz nach der Bekanntgabe der Anerkennung ihrer Volksgruppe als Lykarnische Minderheit zu enormen Unruhen unter den einheimischen Lykarnikern kam, die in Reaktion auf besagten Beschluss damit begannen, Jagd auf die aus ihrer Sicht „abnormen Ausländer“ zu machen, die bis dahin vor Allem dafür bekannt waren, durch besondere Maschinen aufzufallen, die allerlei Dienste für sie verrichteten; Finanzielle wie Militärische inbegriffen. Zwar konnten die Unruhen durch das konsequente Intervenieren des Ordens schnell beendet werden, doch das seitdem anhaltende Misstrauen zwischen den Lykarnikern und den Wiederzählern konnte auch nach all den Jahrhunderten immer noch nicht abflachen. Auch, weil die Erinnerungen an jene Zeit vor Allem durch die Langlebigkeit einiger besonders mächtiger Wiederzähler auf Dauer am Leben gehalten wurde. Und eben einem Solchen jagte die Oberin der Lunamazonen seit längerer Zeit schon nach. Zumindest bis jetzt. „Ihr Beide bezieht hier Position! Rührt Euch nicht vom Fleck und achtet auf die Umgebung! Wenn sich Irgendjemand dem Zugang zu nähern versucht….macht kurzen Prozess.“ – „Ja, Oberin!“, erwiderten Beide fast simultan. Was Alany erneut mit einem kurzen Nicken quitterte, bevor sie sich schließlich daran machte, die geheimnisvolle Treppenflucht in die ominöse Finsternis unter dem Murnau-Anwesen hinabzusteigen. Ein nicht ganz ungefährliches Unterfangen, wie sie schnell feststellte, denn kaum war sie nur einige Meter hinabgestiegen, bemerkte sie die nicht nur kältere, sondern auch feuchtere Luft, während ein von Irgendwo her ertönendes Tropfen an ihre Ohren drang, als die Stufen unter ihren Füßen glitschiger wurden. Vorsichtig schritt sie weiter voran, immer tiefer in die undurchdringliche Schwärze eines offenkundigen Unterirdischen Höhlensystems, dessen Modergeruch ihre Nase zu betäuben schien. Hätte sie nicht die Fähigkeit des Mondblickes gehabt, der sie auf besondere Weise auch in der Schwärzesten Finsternis sehen ließ, wäre sie vermutlich genauso verloren gegangen wie es bisweilen viele Menschen seit Jeher tun, wenn sie von zu großem Leichtsinn beflügelt in derartige Felslabyrinthe hinabsteigen. Bedacht wie zielstrebig bahnte sich die Lunamazone ihren Weg durch hohe und tiefe, breite und schmale Stollen, überwand den einen oder anderen Geröllhaufen und so manch’ enges Schlupfloch. Das Geflecht aus Höhlen erschien schon fast unendlich und Alany befürchtete, hier wohl einige Zeit zu verbringen, sollte ihre Konzentration beim Orientieren auch nur ansatzweise nachlassen. Da sah sie es. Das Fundament des Herrenhauses, Welches aus einem bemerkenswert prunkvoll gestalteten Rastergewölbe mit massiven Stützpfeilern bestand und in seiner pragmatischen Zuverlässigkeit den sich vor ihr erstreckenden Raum derart prägnant definierte, dass Dieser fast wie ein völlig eigenständiger Wohnkomplex des Anwesens zu wirken schien. Endlich!, schoss es ihr dabei durch den Kopf und sie begann, sich einmal mehr aufmerksam umzusehen, während sie langsam zwischen den Stützpfeilern hin und her schritt. Wenn es stimmte, Was ihre zuvor erfolgten Recherchen in der Reichsarchitekturgilde ergeben hatten, dann musste sich hier irgendwo eine unscheinbar anmutende Geheimtür befinden, die eine Wendeltreppe in den Weinkeller des Hauses offenlegen würde. Für einen Moment lang blieb sie stehen; blickte sorgsam um sich; untersuchte Boden, Decke, Pfeiler, selbst die nah und fern gelegenen Natürlichen Felsformationen, auf Welchen dieses Fundament errichtet worden war. Vergebens. Sie ging weiter, den Blick über die Szenerie schweifend. Immer darauf erpicht, jeden noch so kleinen Hinweis auf besagte Tür sofort in Augenschein nehmen zu können...als ein beklemmendes Flüstern an ihr Ohr drang. Augenblicklich hatte Alany ihre Klinge gezogen, bereit zu bekämpfen, Was immer sich ihr da auch angenähert hatte. Doch sie war allein im Gewölbe. Nichts und Niemand hatte sich herangeschlichen. Weder Mensch, noch Tier oder Monstrum. Und doch vernahm sie die Flüsterstimme derart deutlich, als würde ihr Jemand direkt ins Ohr hinein sprechen. „Die Ordensschwestern waren schon immer sehr hartnäckig.“ Alany brauchte nicht lange, um zu begreifen, Wer ihr diese Worte zukommen ließ. Dies war das Werk des Wiederzählers. „Es ist zwecklos, Venenarius! Spare Dir dein Versteckspiel, Du kannst Uns nicht entkommen! Wir wissen von Deinen Plänen! Von Deiner „Familie“! Der Name der „Aviditatis“ hat nicht nur im Untergrund große Wellen geschlagen! Komm’ raus und zeig’ Dich! Legen wir die Karten endlich auf den Tisch!“ Ihre Forderungen wurden mit erdrückender Stille beantwortet. Bis sie nach kurzer Zeit ein merkwürdiges Knirschen vernahm, Welches seinen Ursprung etwas abseits zu ihrer Rechten in einer dunklen Ecke zu haben schien. Die Tür!, schoss es ihr durch den Kopf und tatsächlich. Just in dem Moment, als sie ihren Blick zur Quelle des Geräusches wandt, erfasste sie sogleich eine sich ihr offenbarende Wendeltreppe, deren Verlauf nach oben zu führen schien. Hatte man ihr grade den Zugang zum Weinkeller auf dem Silbertablett serviert? Sie zögerte. Zu einfach, schoss es ihr durch den Kopf, Das ist viel zu einfach. Innerhalb eines Augenblicks spielte ihr Verstand sämtliche Szenarien durch, wog nahezu alle nur erdenklichen Eventualitäten miteinander ab, kalkulierte allerlei Risiken für mögliche Hinterhalte. Sie wusste um die Gerissenheit der Wiederzähler und wollte sich nicht unbedacht in ein potenzielles Gemetzel stürzen. Doch schnell musste sie sich eingestehen, dass sie diesbezüglich sowieso auf verlorenem Posten stand. Auch, wenn sie technisch weiterhin auf Lykarnischen Boden wandelte, so wurde der Ort doch von Einer der mächtigsten Familien der Wiederzähler kontrolliert. Zwar konnte sie auf Alles gefasst sein, doch änderte Dies letztlich Nichts an der Tatsache, dass sie grade blind in ein Wespennest gestochen haben könnte. Nach nur wenigen Momenten des gründlichen Abwägens der Situation betraten ihre Beine schließlich den gefliesten Boden des Weinkellers innerhalb des Hauptflügels des Herrenhauses. Zu ihrer Erleichterung schien sie dort weder mit Fallen, noch mit anderen potenziellen Hindernissen begrüßt zu werden und so ließ sich Alany gar nicht erst beirren, trat entschlossenen Schrittes der Tür zum Erdgeschoss entgegen und durchquerte Diese. Ein schmaler Korridor, der dem Anschein nach dem ursprünglichen Dienstpersonal des Anwesens zugedacht war, begrüßte die Oberin im nächtlichen Mondeslicht, Welches schwach durch die Fenster zu ihrer Linken geworfen wurde. Stille erfüllte die Szenerie in ähnlich erdrückender Weise, wie zuvor in den Unterirdischen Höhlen beim Fundament des Hauses. Es gab keine weitere Abzweigung und so bahnte sie sich ihren Weg zur nächsten Tür, deren Umrisse sich am anderen Ende des Korridors bereits deutlich abzeichneten. Kaum hatte sie die Tür durchquert, hielt sie inne. Ihr Blick ruhte auf einem über mehrere Stockwerke reichenden Großen Saal, dessen Wände von mehreren Emporen und nahezu unzähligen Büchern in rustikalen Regalen gesäumt waren. Ein gigantisches Panel aus Glasfenstern, Welche in einem massiven Eisernen Gerippe luft- und wasserdicht eingelassen worden waren, prangte auf der Einen Seite, ihm gegenüber liegend ein opulenter Kamin aus massiven Obsidian-Marmor. In relativen Abstand dazu positioniert, eine lange Tafel mit exakt 7 extravagant gefertigten Hölzernen Schemeln, die eines Grafen würdig gewesen wären. Nahe dem riesigen Panoramafenster erblickte sie einen riesige Kugel, Welche allem Anschein nach auf einer beweglichen Basis eingelassen lag und deren Oberfläche eine Ansammlung seltsam geformter Gebilde zeigte. Eine Weltkarte!? Aber...wie…?, dachte sie für einen Moment, nur um jäh in ihrem Gedankengang unterbrochen zu werden, als eine erschreckend dominante Baritonstimme die nächtliche Stille des Saales regelrecht zu zerteilen schien. „Ein Werk der Aviditatis. Angelegt in den letzten 647 Jahren durch den Hohen Herrn und seine ehrenwerten Nachfahren. Bis auf ein Siebzehntel genau.“ Alany rührte sich nicht vom Fleck, fixierte stattdessen einen recht finsteren Bereich unweit des Kamins, aus dessen vermeintlicher Schwärze sich eine stämmige wie elegante Gestalt abzeichnete. Feurig leuchtende Augen fixierten sie durch die scheinbar getönten Gläser einer vergleichsweise unscheinbaren Brille, die auf der schmalen Nase eines latent hageren Gesichts zu ruhen schien. Sie erkannte längeres, silbern schimmerndes Haar, das offenbar nach hinten gekämmt oder zu einem Zopf gebunden worden war. Die Gestalt trat einige Schritte hervor, bis der trügerisch einladende Schein des prasselnden Kaminfeuers den Blick auf sie freigab. „Ich gehe davon aus, dass Euch meine Wenigkeit ein Begriff ist, Madame Oberin?“ – „Bedauerlicherweise, ja.“, erwiderte Alany widerwillig. Zahlmeister Albert Waskerian Aviditatis war sowohl ihr, als auch ihren Klingenschwestern nur allzu bekannt. Allein das Ermittlungsarchiv der Lunamazonen verfügte bereits über eine ausführliche Ansammlung an Dokumenten, die auf potenzielle Verwicklungen seiner Person in Einige der größten Vergehen & Gräuel der letzten 4 Jahrhunderte hindeuteten. Den Thanischen Genozid von Morriton mit eingeschlossen. „Ich hatte gehofft, den Hohen Herrn persönlich anzutreffen.“, sprach die Oberin. „Stattdessen werde Ich nur von seinem Laufburschen in Empfang genommen?“ Sie wusste genau, dass sie mit diesem Worten einen Nerv bei Albert getroffen hatte. Auch, wenn sich zunächst keinerlei merkliche Reaktion auf seinem Antlitz abzeichnete. „Bedauerlicherweise ist seine Lordschaft unpässlich aufgrund der anhaltenden Bedrängnis, Welche ihm und seiner Familie seit Kurzem wieder zunehmend zuteil wird.“ – „Nachdem er und seine Sippschaft einmal mehr einer ganzen Lykarnischen Sippe den Garaus gemacht hätten, Albert.“ – „Was wiederum auch nur eine mehr als verständliche Reaktion auf das Attentat an Sir Heiselus Aviditatis, Sohn des Venenarius, darstellte. Vergesst nicht, dass die Linie der Aviditatis seit Jeher stets in nonprovokativer Weise ihr Leben zu verrichten pflegte! Eure langwierigen Observationsprotokolle dürften Dies mehr als deutlich machen!“ Alany begann, ruhigen Schrittes den Saal zu durchstreifen. „Wie erklärt ihr Euch dann den deutlichen Anstieg von Vermissten in unmittelbarer Umgebung des Anwesens?“ – „Pure bedauerliche Zufälle, Madame Oberin. Euch dürfte das Gefahrenpotenzial der umliegenden Wälder doch geläufig sein. Hautwechsler, Erdkriecher, Wölfe, Nachtmähren, Falkenbären, Harpien, Gars, selbst vereinzelte Höhlentrolle, die sich aus den Bergen in dieses Tal gewagt haben, wenn der Hunger sie trieb...seit Euresgleichen gedenkt, ist dieser Teil Eures Reiches berüchtigt für seine natürlichen Urgewalten, die sich tief im Unterholz der hiesigen Waldlande verbergen.“ Die Oberin verharrte unmittelbar neben der großen Tafel unweit des Kamins, auf deren polierter Oberfläche eine Ansammlung verschiedenster Bücher und Schriftstücke platziert worden war. Ein flüchtiger Blick genügte ihr bereits, um deren Inhalt sowie den Zweck ihrer Präsenz zu erfassen. Werke wie „Aufzeichnungen zur Psychosomatik der Blutarmut“, „Innerer Fluss, Lebendiges Muss“ oder auch ein Band über die „Familiengeschichte der Aviditatis vor und nach der Konjunktion“ umsäumten eine Reihe handschriftlicher Notizen, die scheinbar eine Liste von Namen und Gegenständen repräsentierten. Alany ahnte, dass sie definitiv auf der richtigen Fährte war. „Geschenke für die Armen?“, erfragte sie, ihren subtilen Sarkasmus nicht hinter den Berg haltend. „Bestandskontrolle und Erfassung des Neuen Hauspersonals.“ – „Interessant. Besonders, weil Euer ‚Personal‘ scheinbar aus erstaunlich vielen Vermissten zu bestehen scheint.“ Die Oberin nagelte Albert mit stechenden Augen regelrecht fest. „An Eurer Stelle würde Ich diese Scheinheiligkeit ablegen und gleich zum Geständnis übergehen. Mit etwas Glück dürfte Ich dann sogar besonders gnädig mit Euch sein, wenn ihr Euch vor dem Erztribunal des Ordens verantworten müsst. Oder wollt ihr mir tatsächlich noch weis machen, dass die hier aufgelisteten Namen allen Ernstes nur rein zufällig Denen der in dieser Gegend als vermisst gemeldeten Bewohnern entsprechen? Belassen wir doch diese Schmierenkomödie dort, wo sie hingehört und klären die Sache auf die einzig angemessene Weise.“, sprach Alany, während sie entschlossen ihre Silberklinge zum Kampf erhob. Doch Albert regte sich nicht ein Stück. Stumm stand er im schwachen Flimmern des Kaminfeuers am anderen Ende der Tafel und funkelte die Lunamazone aus feurigen Augen heraus an wie ein unschlüssiger Wolf zur Jagd um Mitternacht. Für einige Zeit war das prasselnde Kaminfeuer die einzige Geräuschkulisse, die der Situation eine gewisse Lebendigkeit verlieh. Bis die Rechte Hand der Aviditatis schließlich das Wort ergriff: „Nun gut, es erscheint mir an dieser Stelle auch wenig sinnvoll, einen Streit vom Zaum zu brechen. Doch muss Ich Euch mahnen, mir nicht weiter mit scharfen Silber zu drängen. Es gehört sich hier nicht, in heimischen Gemache mit Waffen zu plänkeln! Bitte also…!“, sprach Albert mit einer Geste, die Alany deuten sollte, ihr Schwert zu senken. Doch die Oberin wusste, Was Dies für sie bedeuten könnte und lies sich auf keinerlei Kompromiss ein. Regungslos fixierte sie ihn weiterhin. „Ich verstehe…“, sprach Albert kurz darauf, als er begriff, dass seine Bitte auf taube Ohren stieß und zog sich einen Schemel zur Tafel heran, um darin Platz zu nehmen. „Als Zeichen meiner Kooperation.“, erklärte er, während er seine Hände offen sichtbar auf der Tafel platzierte und anschließend fortfuhr: „Ihr wollt die Wahrheit hören? Nun, Madame Oberin...die Wahrheit ist, dass wir nicht für die Vermissten in dieser Gegend verantwortlich sind. Die Listen, die ihr dort seht, stammen aus dem Ermittlungsarchiv Eurer Kaste und wurden mir als Anonyme Abschriften zugespielt. Nur zu! Nehmt sie und konfrontiert Eure Oberste Ordensschwester in Lycarnia mit ihnen! Das heißt, wenn Ihr danach überhaupt noch in der Lage sein solltet, die hohen Hallen des Heiligtums lebend zu verlassen.“, merkte er vielsagend an, während er dabei plötzlich einen braunen Ledereinband aus seinem Jackett zog und sie ihr zuschob. „Im Gegensatz zu Euresgleichen haben die Wiederzähler sich nicht vom Orden blenden lassen und eigene Nachforschungen angestellt.“ Zögerlich blickte Alany auf den offenbar prall gefüllten Einband auf der Tafel. Was bei allen Göttern bedeutete Das? Versuchte Albert nur, sie aus der Reserve zu locken oder lag in seinen Worten doch mehr Wahrhaftigkeit, als sie ihm zugestehen wollte? „Wie Ich sehe, benötigt Ihr da noch etwas Bedenkzeit. So sei es denn! Wir Wiederzähler sind Kinder der Stoa. Unser Geduldsfaden ist nahezu unendlich. So nehmt Euch da alle Zeit der Welt und wenn Ihr Euch entschieden habt, reiset umgehend nach Norden! Ein verborgener Pfad durch die Kristallspitzen wird Euch unverzüglich ins Zentrum von Neu-Koboll führen, der Hauptstadt meines Volkes. Bestellt den Erzzahlmeistern einen schönen Gruß von mir und verlangt nach Venenarius persönlich! Er wird Euch alles Weitere erläutern. Wohl an denn, Werteste; und...auf bald.“ Die Worte waren kaum gesprochen, als er scheinbar aus dem Nichts etwas zu Boden warf, das mit einem Klirren wie von zerspringenden Glas in tausend Einzelteile zerbrach und einen dichten Nebel entfesselte, Der sich innerhalb eines kurzen Wimpernschlages im gesamten Saal auszubreiten schien und Alany sofort durch die Nase in den Kopf stieg. Sein beißendes Aroma verursachte ihr dabei derart unsäglich brennende Schmerzen, dass ihre Augen schließlich völlig unkontrolliert tränen und ihre Lungen sich krümmten. Die Oberin schnappte panisch nach Luft, während ein merkwürdig verschwommenes Gewirr aus Schritten, umstürzenden Mobiliar und klirrenden Glas an ihr Ohr drang. Unter größter Anstrengung versuchte sie die Orientierung wieder zu erlangen, doch der Rauch hatte bereits sein Übriges an ihr getan und so verblieb ihr kaum etwas Anderes, als über den Boden des Saales kriechend das unweit gelegene Fensterpanel zu erreichen, bevor der anhaltende Mangel an Luft ihr letztlich den Rest geben würde. Ihre Augen waren mittlerweile völlig verwässert vom beißenden Geruch des Nebels, der Alany mehr und mehr die Luft abzuschnüren begann. Und beinah wäre sie den Qualen ihrer Umstände erlegen, hätte ihre linke Hand in einer instinktiven Bewegung nicht mitten durch die Luft greifend den Sims des Fensterpanoramas ertastet. Mit den letzten Kräften, die ihr noch zur Verfügung standen, zog sie sich empor, schaffte es sogleich, sich auf dem Sims niederzulassen und vollführte einen schwungvollen Seitwärtshaken, der es tatsächlich ermöglichte, Eine der Fensterscheiben zu zerbrechen. Frische Luft bahnte sich ihren Weg durch die Nüstern ihrer schlanken Nase, ihr Mund schien förmlich nach der Kälte der Nacht zu schnappen, während Alany sich prustend ins Freie hinaus beugte. „Diese widerliche Made!“, keuchte sie, während sie weiterhin damit beschäftigt war, ihre Sinne aus den Klauen des beißenden Rauches zu befreien, der ihr über die Schulter hinweg immer noch zuzusetzen schien. Als sie plötzlich ins Leere griff, vornüber kippte und in die Tiefe stürzte, um kurz darauf von Schwärze umarmt zu werden. „Oberin?“ Eine gar allzu vertraute Stimme drang zu ihr hindurch und sie öffnete die Augen. Tageslicht begrüßte sie, doch brauchte es erst einige Momente, ehe sie begriff, wo sie sich befand. Allem Anschein nach war Alany wohl vom Sims des Panoramafensters des Herrenhauses in den direkt davor gelegenen Ziergarten des Anwesens gestürzt und nur durch dessen vergleichsweise gütig gewachsenen Ligusterhecken vor einem schlimmeren Schicksal verschont geblieben. „Wir dachten schon, ihr wärd verloren!“, rief Esther vor Erleichterung. „Ich wüsste jedenfalls nicht, wie Ich den Verlust der mächtigsten Lunamazonin der Obersten Ordensschwester erklären sollte.“ „Seid Ihr sicher, dass es Euch gut geht?“, erkundigte sich die zu ihrer Rechten in Erscheinung tretende Valeria und die Oberin kam bei diesem Nachfragen nicht umhin, sich geschmeichelter von der Aufrichtigkeit ihrer Sorge zu fühlen, als sie es vermutlich zugegeben hätte. „Ich bin wohlauf, keine Sorge. Auch, wenn mich das Ganze ziemlich geschlaucht hat.“, versicherte sie ihren Klingenschwestern. „Was ist überhaupt passiert?“, wollte Esther wissen. „Wir haben Uns die ganze Nacht wie befohlen am Verborgenen Zugang postiert und als es zu dämmern anfing, Ihr aber noch nicht da ward, da wurde Uns das Ganze zu sonderbar! Wir befürchteten das Schlimmste!“ – „Ist ‚ne lange Geschichte, Schwester. So viel sei jedoch gesagt: Was Ich hier vorgefunden habe, wirft mehr Fragen als Antworten auf.“ – „Wie meint ihr Das?“ – „Nun, meine Lieben…“, sprach sie, während sie sich langsam zurück auf die Beine stemmte, „...ganz offensichtlich sieht es sehr danach aus, dass wir etwas Großen auf der Spur sind.  Ich habe den Schatzmeister der Aviditatis im Haus angetroffen. Mit ihm gesprochen. Und er hat mir etwas äußerst Interessantes offenbart. Die Vermissten hier im Tal gehen angeblich nicht auf das Konto der Wiederzähler. Und dann gab er mir Das hier, mit dem Ratschlag, die Oberste Ordensschwester in Lycarnia damit zur Rede zu stellen.“ Sie reichte ihren beiden Begleiterinnen den ominösen Ledereinband, samt der Vermisstenlisten und bemerkte dabei den Schock, der sich auf ihren Gesichtern abzuzeichnen begann, als sie die Dokumente grob überflogen. „Oberin….das….habt Ihr eine Ahnung, Was man Euch da anvertraut hat???“ Alany wirkte verwundert ob dieser Frage. „Was meint ihr, Schwester?“ – „Ich habe die Oberste Ordensschwester bereits selbst schon mehrfach gesprochen. Habe sogar Schriftliche Anweisungen von ihr höchstpersönlich ausgehändigt bekommen. Ich kenne ihre Handschrift sehr gut.“, sprach die Klingenschwester und reichte der Oberin den Ledereinband. „Das hier ist nicht einfach nur irgendein Dokument, Herrin.“ Alany nahm den Ledereinband und betrachtete seinen Inhalt zum ersten Mal in aller, der Situation angemessenen Ausführlichkeit. Und tatsächlich, die Handschrift der Obersten Ordensschwester war hierin nicht zu übersehen. Doch Was sie dort niedergeschrieben sah, verschlug ihr sämtliche Worte. Der Einband enthielt eine ganze Reihe von Schriftstücken; angefangen über Anweisungen & Befehlen bis hin zu eher privateren Briefen und Aufzeichnungen, allesamt in ihrem unverfälschten Originalzustand. Und Alle thematisierten sie das Gleiche. Eine wahrhaftige Ungeheuerlichkeit. Ein Sakrileg, das Seinesgleichen suchte und in seiner Unsäglichkeit Alles übertraf, das Alany bis dahin gekannt hatte. Zwar überflog sie das Meiste vorerst nur, doch allein Dies genügte ihr bereits, zu erkennen, welch’ finsterer Kaninchenbau sich ihr da offenbart hatte. Tausend Gedanken schossen ihr im Anblick dieser Zeilen durch den Kopf, sodass sie eine ganze Weile benötigte, um sich wieder zu sammeln. „Ähm...Oberin?“ Alany spürte die sanfte Berührung einer Hand auf ihrer Schulter, die sie aus ihren Gedanken riss. „Was sollen wir jetzt tun? Offenbar haben wir Aviditatis wieder nur um Haaresbreite verpasst! Das wird dem Orden gar nicht gefallen und wenn Ich ehrlich bin, möchte Ich nicht schon wieder aufgrund unseres Scheiterns zum Patroullienlaufen in den Kanälen von Lycarnia abgestellt werden. Geschweige denn, meinen Kopf deswegen verlieren.“ Alany lächelte ob dieser ungenierten Ehrlichkeit, die Esthers Worte erfüllten und versicherte: „Soweit Ich Das sehe, ist unsere Aufgabe noch nicht gescheitert. Ganz im Gegenteil.“ – „Aber...lautete unser Auftrag nicht, Aviditatis hier in seinem Anwesen festzusetzen?“, erwiderte ihre Klingenschwester, „Und genau Das ist Uns eben NICHT gelungen!“ Die Oberin nickte. „Das mag sein, Schwester. Und doch sind wir noch nicht am Ende. Albert überließ Uns diese Dokumente nicht ohne Grund und anhand Dessen, Was er mir vergangene Nacht nahelegte, kann Ich mit Sicherheit sagen, dass wir hier erst am Anfang unserer Arbeit stehen. Wenn Das, Was in diesem Einband gesammelt ist, tatsächlich der Wahrheit entspricht, dann sollten Wir schnell handeln und wohlmöglich….nun, ein gewisses Risiko eingehen, wenn Ihr versteht.“ Ihr Blick wanderte über die Wipfel der nahegelegenen Waldgebiete hinweg gen Norden. „Wir kamen hierher, einen alten Feind zu stellen. Und wir haben ihn gestellt. Doch nicht, wie wir dachten, es zu tun. Und nun hat sich ein neuer Pfad ins Ungewisse aufgetan. Eine Reise steht Uns bevor, Schwestern. Wir beschreiten den Weg der Reinigung, Uns vom Schleier der Täuschung zu befreien und dem Licht der Wahrhaftigkeit wieder entgegen zu blicken! Nein, meine Liebe, Dies ist nicht länger die Jagd nach einem Wiederzähler. Dies ist die Suche nach Dem, was wahr ist.“ Die Oberin wandte sich ihren gebannten Klingenschwestern zu. „Offiziell haben wir unseren Anweisungen Folge geleistet; auch, wenn wir keinen Aviditatis auf dem Silbertablett servieren können. Die Mission ist offiziell beendet. Ich kann Euch formell daher nicht dazu zwingen, mir weiterhin zu folgen, Schwestern. Eure Pflicht besteht darin, in Lycarnia Bericht zu erstatten und genau Das werdet ihr tun. Ihr werdet über die Mission berichten und ihr werdet dem Orden darlegen, dass Venenarius Aviditatis einmal mehr entwischt ist und Ich ihn derzeit gen Norden verfolge. Dies wird Euch als treue Angehörige der Lunamazonen adeln und lediglich mich als unverantwortlichen Schändling der Garde ahnden. Und sorgt Euch nicht um mich, meine Lieben! Albert mag mir zwar durchaus zugesetzt haben, aber wenn er mich wirklich hätte töten wollen, würden wir jetzt nicht hier zusammen stehen. Er wusste genau, Was er tat. Er WOLLTE, dass Ich überlebe. Um Kontakt zu den Wiederzählern zu suchen. Ich spüre es. Hinter all Dem steckt weitaus mehr, als wir bislang dachten und wenn ich wirklich erkennen will, um Was es sich dabei handelt, dann nur auf diese Weise.“ Esther und Valeria schwiegen. Alany wusste, dass ihre Worte Nichts weniger als einem Offenen Verrat am Orden und der Garde gleich kamen, doch die Oberin war sich ihres Handelns bestens bewusst. Ohnehin hätte sie - nach Allem, das ihr dieser Albert quasi direkt vor die Füße geworfen hatte – keine andere Wahl gehabt. Die letzte Nacht hatte ihr eine potenzielle Verschwörung offenbart und ihre Zerschlagung stand nun potenziell an Oberster Stelle. „Mit Verlaub, Oberin. Aber habt Ihr Eure eigenen Lehren vergessen?“, erklang es von Esthers Seite, während Valeria ihren Griff um ihr eigenes Kurzschwert festigte und zu zitieren begann: „‘In Zeiten des Nebels ist es das Band der Klingen, das uns Schwestern eint; über alle irdischen wie überirdischen Grenzen hinweg.‘ Wenn Ihr also denkt, Ihr könntet Uns auf diese unsägliche Weise einfach abschütteln, dann seid ihr – bei allem Respekt – schief gewickelt.“ Alany konnte sich ein breites Grinsen nicht verkneifen. Also haben sie doch zugehört, als es drauf ankam, dachte sie und wurde von einem plötzlichen Anflug von Stolz erfüllt. War Dies also etwa Einer dieser besonderen Momente? Ein Augenblick, der große Geschichte schreiben würde, ohne dass die daran Beteiligten es bemerkten? Die Zeit würde es zeigen, versicherte Alany sich selbst, während sie mit Esther und Valeria die nun folgende Reise zu planen begann. Es sollte jedoch noch ein voller Tag ins Land ziehen, bevor die Drei sich schließlich aufmachten, den Weg gen Norden in Richtung des Kristallspitzengebirges anzutreten. Jener Bergkette, in deren Herzen angeblich die Heimstadt der Wiederzähler verborgen sein soll.