DER GREIS
Wir schreiben das Jahr 938 nach Zählung der Sonne. Dies sind die Aufzeichnungen des Wang Dao-Mingh, Sohn des Shuo Mingh, der über die Begegnung mit dem "Greis" nach der großen Schlacht am "Bach Dang"-Fluss berichtet.
Es war bereits finster, als ich mich nach den unerbittlichen Kämpfen nahe des Flusses allein im tiefsten Walde verschlagen fand. Den Anschluss an die übrigen Krieger meines Herrn verloren, irrte Ich ziellos zwischen mir nicht bekannten Bäumen und Gestrüppen umher, Welche in der kühlen Stille der vom bleichen Schimmer des Mondes erleuchteten Nacht gar sonderbare Schattengespinste zu Boden warfen. Vom Zirpen der Grashüpfer begleitet, befiel mich schon sehr bald eine gar vollumfängliche Erschöpfung und Ich spürte meinen Geist nach der erholsamen Ruhe des Schlafes trachten. So ließ mich da bald auf einer kleinen Lichtung nieder, die sich nach eingehender Musterung als ein exzellenter Platz zum Nächtigen erwies, wart ein Feuer entfacht und mein Schlafgemach hergerichtet. Wie der Zufall es wollte, erlegte ich unweit meines recht grobschlächtig anmutenden Lagers einen prächtigen Fasan, welcher mir sicherlich ein gutes Abendessen sein würde und so kam es, dass Ich beinah so zu speisen schien, als wäre Ich dem Hohen Königshauese entsprungen; als Ich aus dem Unterholz ein lautes Knacken vernahm. Wie der Blitz aus heiterem Himmel schoss Ich in den Stand, zückte meine Klinge kampftüchtig und rief: "Wer da? Zeige dich!" Wieder ertönte ein Knacken, gefolgt von jenem Flüstern des Unterholzes, Welches stets dann zu vernehmen ist, wenn es durch Irgendetwas oder Jemanden in der Bewegung an dessen Leibe entlang streift. Als sich schließlich zwei große Farne vor meinen Augen teilten und ein mir alter Greis entgegen trat. Von buckliger Gestalt und mit einer wie tief zerfurchtes Wildleder anmutenden Haut versehen, wirkte er zunächst wie ein recht unscheinbarer Landsknecht, der sein täglich Brot - wie Jeder seines Standes - auf den hiesigen Feldern des Reiches zu verdienen pflegt; eine Initialvermutung, die mit der zweiten Musterung seiner Erscheinung allerdings abrupt zerstreut wurde.  Im flackernden Schein der Flammen starrten aus den tief eingesunkenen Höhlen seines Schädels zwei eisig stechende Pupillen derart ehrfurchterregend auf mich herab, dass es mir mein heißes Kriegerherz vor Unbehagen bis zum Halse schlagen ließ. "Wer seid Ihr? Was tut Ihr hier?", wollte ich erfahren. Doch aus dem von tief zerfurchten Falten umsäumten Munde des Greises wollte schlicht kein einziger Laut entweichen. Ich festigte meinen Stand merklich, die Klinge seinem Antlitz entgegen streckend, als Ich ihn mit allem dem Momentum entsprechenden Nachdruck erneut ersuchte, mir seinem Namen und den Grund für sein plötzliches Erscheinen zu benennen. Doch einmal mehr wurde Dies mit einer fast versteinerten Reglosigkeit seitens des Greises beantwortet und so wusste Ich prompt, Dies ist kein gewöhnlicher Bauer. Jedoch auch kein gewöhnlicher Krieger. Zwar schien mir seinerseits keinerlei Feindseligkeit zu begegnen, doch wagte Ich aus mir schlicht unerfindlichen Gründen einfach nicht, meine Klinge ihm gegenüber zu senken, denn mein allzu bekannter Kriegergeist wart in mir erwacht und mahnte mich zur Vorsicht an. Und so standen wir da nun. Ein verirrter Krieger, mit gezogener Klinge an seinem Nachtlager, aufgeschreckt von einem scheinbar taubstummen Greis, dessen bohrender Blick ihn mehr und mehr bis ins Mark seiner Gebeine zu erschüttern begann. Einmal mehr rief Ich ihn dazu an, mir seinen Namen und den Grund seines Erscheinens zu so später Stunde zu benennen, gefolgt von der Mahnung, daß ein Ausbleiben der Antwort mit seinem Tode enden würde. Doch kaum wart Dies ausgesprochen, als eine deutliche Brise über die Lichtung fauchte und die Flammen meines kleinen Feuers willkürlich zu schwächen begann. Und es war in diesem Moment, daß Ich es erblickte; dort, in den scheinbar unendlichen Tiefen seiner pechschwarzen Pupillen. Jenes, wovor ein Jeder sich seit Menschengedenken zu fürchten pflegt und für dessen unerträglich leidvolle Grausamkeit es keine Worte in jeder nur erdenklichen Sprache gibt. Ich erblickte ein Meer aus schemenhaften Körpern, eng verschlungen ineinander, Welches sich aus dem gigantösen Rachen eines uralten Titanen zu ergießen schien wie ein unendlicher Strom fleischgewordener Agonie. Und jetzt - war es Wirklichkeit oder Einbildung? - vernahm Ich just in diesem Moment einen entsetzlichen Chor unzähliger Stimmen, deren Wehklagen ohne jeden Zweifel von einem unerschöpflichen Wahn zeugte, der im Sand der Zeit all seine unerbittliche Abscheulichkeit vor mir zu entblößen schien. Und da! Mehr und mehr schienen sich die Flammen meines nächtlichen Feuers in unzähligen, bis zur Unmöglichkeit geweiteten Augenpaaren wiederzuspiegeln, als das gesamte Schreckensbild in einem klimaktischen Exzess sich aufbäumte und mit aller Urgewalt des Absonderlichen über mich kam wie ein Erdrutsch über ein ahnungsloses Tal zur Regenzeit. Das Antlitz des Greises verschwamm vor meinen Augen mit dem offenbarten Schrecken in seinem Blicke und Schwärze umfing mich sogleich, während mir ein wahnhaftiger Schrei meiner schreckenserfüllten Brust entwich, um mich anschließend hinfort zu schwemmen in einen Strudel aus tausend Lichtern, Tönen & Eindrücken, deren Artung Ich nicht in Worte fassen kann. Wie viel Zeit dabei verstrich, mag Ich ebenso wenig rekapitulieren, denn ein glaubhaftes Gefühl von Zeit & Raum war mir in jenem Momente so fern, wie die Vertrautheit meines gefestigten Kriegergeistes. Erst, als ein Gefühl von Wärme mein Entsetzenverzerrtes Gesicht zu erfüllen schien, erwachte Ich aus meinem Delirium und....blickte in die sorgenvollen Augen eines Hofdieners. Es brauchte anschließend nur wenige Momente, bis Ich meinen Geisteszustand vollends wieder stabilisiert hatte und nun Zeit hatte, meine Umgebung näher zu begutachten. Wie sich herausstellte, wurde Ich ursprünglich am Rande eines unerschlossenen Waldgebietes unweit des Bach-Dang-Flusses aufgegriffen und sofort ins nächste Dojo gebracht, wo mich die meine Mitkrieger schließlich in Empfang nahmen, um mich anschließend zum Hofe des Königs zu bringen, wo die besten Ärzte des Reiches mich schließlich näher begutachten & behandeln sollten. In meinem wahnhaften Verhalten habe Ich angeblich viel gestammelt. Allerdings konnte man diesem Gepolter aus Silben und Worten nur wenig Sinn entnehmen, wenn es nicht gerade durch mein entsetzliches Zetern & Gelächter unterbrochen wurde. Schon hatte man mich als gebrochenen Königskrieger abgetan, als Ich jetzt auf einmal wieder "erwacht" sei. Von einem alten Greis mit zerfurchter Wildleder-ähnlichen Haut und tief eingefallenen Augen wollte man allerdings noch nie Etwas gehört haben und tat es daher als das Ergebnis meines wahnhaften Deliriums ab, dessen Dauer mich auf Nachfragen zutiefst erschütterte. Drei Jahre. Drei lange Jahre des Wahnsinns hatte mir jene schicksalhafte Nächtliche Begegnung mit dem Greis beschert, in Denen die vollständige Bezwingung unseres Feindes, das anschließende Friedensabkommen und der stete Abbau der Kriegsschädigungen an mir vorüber gezogen waren. Grundgütiger. 
Es verging noch einige Zeit, bevor Ich unter Empfehlung der Königlichen Ärzteschaft wieder in den Dienst meines Herrn gestellt werden konnte, Welcher meine Geschichte im Übrigen mit großen Interesse aus meinem Munde zu Papier bringen und überprüfen lies. Vergeblich, versteht sich natürlich. Und doch sah' Ich es ihm an. Er wusste, Was mir geschehen war. Er verstand. Verstand Alles. Sein Blick verriet mir: Auch er kannte jenen Greis mit den so schrecklich tiefen Augen, aus deren tiefschwarzer Unendlichkeit sich der uralte Schrecken allen Seins zu ergießen scheint. Und so wie mir ist auch ihm lange schon gewiss, dass ein Jeder von uns ihn eines Tages wieder erblicken wird. Und fürwahr, es mögen Uns die Götter gnädig sein, wenn Dies geschehe.
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