DAS DING IM SCHRANK


Inspiriert von H.P. Lovecraft

Des Nachts, wenn Mutter Natur sich bettete und im Elternhaus das letzte Licht erlosch, sah Ich es. Jedes Mal, wenn Ich zu Bett ging. Ich entsinne mich seiner Existenz, solange Ich denken kann. Es war immer da, wenn mein Weg mich ins schemenhafte Reich der Ruheträume schickte. Lauernd. Observierend. Wachend. Es rührte sich nie aus seinem Versteck und doch sah Ich es jedes Mal, sobald die Situation in Raum & Zeit genehm’ war, es zu sehen. Was es war, vermag Ich nicht zu benennen. Auch ist mir nie zu Bewusstsein gekommen, welcher Abstammung es war. Lediglich Dies war gewiss, dass Ich der Einzige in meiner Familie zu sein schien, der imstande war, es in jeder Nacht aufs Neue zu erblicken. 
Ich entsinne mich noch des Tages, an dem meine gottesreinen Augäpfel ihren ersten Blick auf jenes Ding warfen. Es ward die Nacht zu meinem fünften Geburtstag, als es sich mir offenbarte in der Finsternis meines Schrankes. Umhüllt von schier unendlich anmutender Schwärze, dessen Alter mein jungfräuliches Gemüt damals nicht zu fassen vermochte, starrte es mich aus den Tiefen einer schrecklichen Unendlichkeit an, deren Ursprung zu einem Zeitpunkt verortet sein musste, an Dem noch nicht einmal jener kosmische Klumpen Staub, den Unsereins „Erde“ zu nennen pflegt, existierte und in deren Schoß es seit Jeher zu verweilen gepflegt haben musste, ehe wir uns da trafen. Es sprach nie. Tat nie Irgendetwas, außer seine aschfahlen Augäpfel auf mein von einem Gemisch aus purem Entsetzen und zugleich unendlicher Faszination erfülltes Antlitz zu richten. Und Ich wagte es nie, das in der Schwärze der Nacht verborgene Ding in meinem Schrank auch nur anzurufen, gar herauszufordern. 
So verblieb es für viele Jahre letztlich und mit jeder gemeinsamen Nacht, die vorüber zog, lernte Ich das Ding immer weniger fürchten; entwickelte bisweilen sogar eine gewisse Sympathie für seine Präsenz, die schlussendlich von Neugier & Mitleid erfüllt wurde. Was mochte es sein?, dachte Ich bei mir. Ja, Was mochte es sein, das dieses Ding so unwiderruflich an den Schrank in meinem Zimmer band? Welche unerbittliche Macht brachte es nur fertig, jene finstere Kreatur in derart schrecklicher Weise an das Innere eines derart profanen Möbelstückes zu fesseln? 
Es sollte die Nacht zu meinem sechzehnten Geburtstag sein, in Der Ich alle meine Fragen endlich beantwortet bekommen würde. Dies war zumindest mein Plan und fürwahr, wie Ich mich auf diesen Moment vorbereitete. Aus der Kammer meiner Mutter stahl Ich eine handvoll Tischkerzen und brachte sie zu Mitternacht, als der Herbstmond – Ich war ein Oktoberkind – am Höchsten stand und so nur marginal durch das Fenster meines Zimmers sein kühles Leuchten werfen konnte, direkt vor dem stets halb geöffneten Schrank in halbkreisförmige Position um den Schrank herum, bevor Ich sie schließlich mit Streichhölzern entfachte, welche Ich beim dicken Willy an meiner damaligen Knabenschule gegen ein Paket Streuselkuchen eingetauscht hatte. Eine Kaninchenpfote meiner Großmutter, die sie mir einmal als Glücksbringer kurz vor ihrem Dahinscheiden geschenkt hatte, sollte mir als Schutzpatron für besondere Situationen dienen; auch, wenn Ich mir nich sicher war, ob sie dafür überhaupt irgendwie nützlich sein könne.
Pünktlich zu Beginn der Geisterstunde schließlich saß Ich dann vor dem im Kerzenschein erleuchteten, halb offen stehenden Schrank. Und erblicket zum ersten Mal das volle Ausmaß Dessen, was die schemenhaften Schleier der Nacht zuvor nur erahnen ließen. Es schaudert mich auch jetzt noch, wie Ich über diesen Moment schreibe. So sehr, dass Ich es nicht wage, sein Erscheinungsbild in Worte zu fassen; gibt es doch nicht eine Bezeichnung in jeder dem Menschen geläufigen Sprache, die den unermesslichen Schrecken erfassen könnte, Welcher diesem Ding innewohnte. Wie Ich so dasaß und das Ding dort im Schrank nun endlich in all seiner Schaurigkeit erblickte, erstarrte mein Körper vor Entsetzen fast zu Stein und Ich ward nicht fähig, mich zu erheben; so sehr Ich Dies auch gewollt hätte.
Furcht übermannte mich, kämpfte einen elendig gewaltvollen Kampf mit der Neugier in meiner Brust. Was immer dieses Ding war, es war in jedem Falle Nichts, das dieser Welt, dieser Realität entsprungen ist. Verzweifelt versuchte Ich, das panisch springende Herz und das Schnappen meiner Lungen wieder in Ruhe zu bringen. Was mir schließlich nach einer Vielzahl von Versuchen auch gelang. Dann sprach’ Ich es an. Zum ersten Mal in meinem ganzen Leben. 
Das Ergebnis war ein Gespräch, dessen Inhalt Ich nicht zu rezitieren imstande bin. Nicht, weil Ich mich nicht Dessen entsinnen könne, Was gesprochen ward, sondern vielmehr wegen der Abscheulichen Natur Dessen, was das Ding mir mitteilte. Meine Ohren erfassten Beschreibungen von einem urältesten Königreich, verborgen in der Unendlichkeit kosmischer Nacht und mein Blick klammerte sich wie ein gieriger Wolf an Bilder, deren entsetzliche Grausamkeit selbst den Wahnen eines Al-Hazred wie eine kindische Fantasterei wirken lässt. So unbeschreiblich erschütternd ward das Offenbarte, dass Ich in einen panischen Wahn verfiel. Ich versuchte, mich vom Boden zu lösen, aber mein Körper ward wie gefroren. Ich begehrte es, zu schreien vor Furcht; doch mein Mund ward wie verklebt. Ich wollte die Stimme erheben, doch mehr als ein gurgelndes Winseln kam nicht zustande. Schließlich verschwamm das Abbild der Kreatur im halboffenen Schrank vor meinen wahnhaft geweiteten Augen und Schwärze umarmte mich wie der wohlige Busen einer fürsorglichen Mutter für eine unerträgliche Ewigkeit.
Als Ich das Licht der Welt wieder erblickte, befand Ich mich im wohligen Bette eines Hospitals, in Das mich meine Eltern gebracht hatten, nachdem sie mich aus der flammenden Hölle meines eigenen Zimmers befreit und so nur um Haaresbreite vor einem tragischeren Schicksal bewahrt hatten. Auf mein Fragen hin versicherte mir der Doktor, dass mein Körper schwere Verbrennungen erlitten habe, Ich aber mit etwas Glück wieder in Ordnung käme. Von einem Ding in meinem Schrank jedoch wollten weder er, noch meine Eltern je Etwas gewusst haben. Und auf die Frage meines Vaters hin, ob Ich deswegen versucht habe, meinen Schrank in Brand zu stecken, konnte Ich nur mit einem stummen Entsetzen entgegnen, dessen Wirkung selbst dem alteingesessenen Spitalarzt nicht verborgen blieb. Einige Wochen benötigte Ich zur vollständigen Genesung, dann durfte Ich schlussendlich wieder heim. Natürlich hatte der Vorfall in meiner Heimstadt seine Runden gemacht und dabei ein Grauen in den Köpfen meiner Mitmenschen verpflanzt, dessen Präsenz nun ein steter Begleiter war, selbst dann noch, als Beide meiner Eltern längst zu Grabe getragen waren und Ich meinen ersten Enkel in die Arme schließen sollte. Einen Schrank hatte Ich seitdem allerdings nie mehr besessen. Zu groß war das Grauen, das Ich in jener Nacht vor meinem sechzehnten Geburtstag erblickt, zu verstörend der Schrecken, Welcher über die Lippen dieses Dings an mein Ohr gedrungen. Und auch, wenn Ich jenes Ding im Schrank dadurch nimmermehr zu Gesicht bekommen sollte, so blicke Ich mich doch in jeder Nacht, wenn der Mond am Höchsten steht, stets im familiären Schlafgemach um. Die Ecken des heimlichen Raumes musternd, denn Ich weis: Es ist noch da. Es war immer da. Lauernd. Observierend. Wachend. Wartend.